Rezension

Brasilien – Instinkt,
Intuition und Flexibilität




„Brasilien ist der Apple unter den aufstrebenden Schwellenländern, cooles Image, sinnliches Design.“ So hübsch formulierte das einmal Andreas Wunn, Südamerikakorrespondent des ZDF. Der BRIC-Staat mit „Sambafaktor“, bunt und aufregend, werde inzwischen aber hauptsächlich als „unübersichtlich“ wahrgenommen, sagt er heute. Seit dem „brasilianischen Frühling“ im Juni 2013 prägt die Wucht der Massenproteste das Bild des Landes. Die Probleme bleiben ungelöst: Korruption, Kungelei und Vetternwirtschaft von „atemberaubendem Ausmaß“. Nun ruhen die Kundgebungen nahezu. Seit 12. Juni rollt der Ball bei der "Copa do Mundo" 2014.

Karneval und Kriminalität, Fußballzauber und Favelakriege, Sambapartys und Sozialproteste: Brasilien für Insider - Nahaufnahme eines Sehnsuchtslandes ist Wunns zweites Brasilien-Buch. Seit 2010 berichtet der 39jährige Fernsehjournalist aus Rio de Janeiro über ein komplexes Land im Umbruch. Besonders gut trifft er darin die brasilianische Mentalität. Anschaulich macht er dem Leser die Gefühlswelt der Brasilianer zugänglich. Auch wenn es dem Klischee entspricht, es ist oft Realität: Deutschland steht darin für Logik, Ordnung und Regeln, Brasilien für Instinkt, Flexibilität und Intuition. Im Kapitel Brasilien ist ein Gefühl, schreibt Wunn: „Und während man sich in Deutschland hin und wieder mal zusammenreißt, bricht in Brasilien regelmäßig das Gefühlschaos aus: der kollektive Rausch des Fußballtaumels, der individuelle Schmerz des Liebeskummers, der allgemeine Stolz, Brasilianer zu sein“ – eine nationale Achterbahn der Gefühle.

In 17 weiteren Kapiteln weitet Wunn seinen Blick auf die wichtigsten Eigenheiten Brasiliens aus. Der Journalist entlarvt den Mythos vom großen Bevölkerungsmix als Schmelztiegel ohne Rassismus. Doch hier hat sich zukunftsweisendes getan. Mit eine der größten Errungenschaften der Linksregierung von Präsidentin Dilma Rousseff: Sie hat Quotenregelungen für Schwarze an den staatlichen Universitäten eingeführt. Im Teil Alarm am Amazonas erklärt er den aktuellen Kampf um den Bau des umstrittenen "Belo Monte"-Staudamms im Amazonasgebiet. Als "Haus der Götter" bezeichnen die Indiostämme den Rio Xingu, zu dem sie eine spirituelle Beziehung haben. 25 000 Indianer und vierzig unterschiedliche Volksgruppen leben an seinem Ufer.

Rio de Janeiros Legenden wie Paulo Coelho und Oscar Niemeyer beschreibt Andreas Wunn. Seine Reporterseele erfasst auch die lockere, tropische und chaotische Stimmung in ihrer Stadt. Andreas Wunn geht immer sehr nahe heran an die Menschen. Für gewagte Selbstversuche ist sich der Südamerikakorrespondent des ZDF nicht zu schade – was spannend für den Leser ist: Einen Tag ist er Sozius eines Motoboys (Motorradkurier), der sich auf São Paulos verstopften Avenidas an den Autos vorbeischlängelt. Auch die Mühen des Alltags sind ihm nicht zu klein: Da gibt es Rosangela, eine Frau aus Rio, 57, kurze krause Haare. Sie geht arbeiten, seitdem sie elf Jahre alt ist. Andreas Wunn begleitet sie frühmorgens auf ihrer zweistündigen Busfahrt zu ihrer Arbeitsstelle – in die eigene Wohnung. Rosangela ist Wunns Haushaltshilfe an der Copacabana.


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Eva von Steinburg - 24. Juni 2014